Biografie


Ich bin ein Wunderkind – ein Wirtschaftswunderkind. Das heißt, ich habe mich schon früh gewundert, warum vom Wirtschaftswunder der 1950er Jahre so wenig in unserem Hause ankam? Das lag unter anderem daran, dass vom schmalen Maurergehalt meines Vaters fünf hungrige Schnäbel zu stopfen waren. Jeden bescheidenen Lohnzuwachs haben wir buchstäblich aufgefressen. Meine ersten Hausaufgaben machte noch ich im Schein einer Petroleumlampe; meine ersten Bücher las ich mit Taschenlampe unter der Bettdecke; meine ersten Geschichten habe ich mir auf dem drei Kilometer langen Fußweg zur Schule ausgedacht.

Vom Schreiben, vom „richtigen“ Schreiben aber war ich noch meilenweit entfernt.  

Bücher kamen von ganz oben - und ich war ganz unten!  

Ich mochte die Geschichten, die unser alter Pfarrer mit warmer Stimme aus der Bibel vorlas, auch wenn ich sie nicht verstand. Noch mehr aber liebte ich, weil fassbarer, die Welt-Geschichte, die unser Oberschulrat so lebhaft zu vermitteln verstand. Angstfrei war ich in der Schule nur im Geschichtsunterricht, in der Religionsstunde - und in Deutsch, wenn es einen Aufsatz zu schreiben galt. Zweimal schrieb ich den klassenbesten.

Vom Schreiben, vom „richtigen“ Schreiben war ich immer noch meilenweit entfernt. 

Zwischen mir und meinen Geschichten lag der Alltag, die Schule mein ganzes, kleines Leben mit all seinen Tücken und Pflichten.  

Unsere Eltern wollten, wie ihre sicherlich auch, das Beste für ihre Kinder. Das Beste aus der Sicht der Arbeiter ist ein Bürojob: man sitzt den ganzen Tag rum, macht sich nicht schmutzig, verdient mehr als mit der körperlichen Schufterei und ist auch noch besser angesehen. Und so steckten sie mich in die Handelsschule.

Wir waren vom ersten Tag an Feinde, der Handel und ich. Nach einem Jahr Krieg kapitulierte ich und entschied ich mich für das Handwerk. Mit ihm vertrug ich mich einigermaßen, auch wenn ich seinen sprichwörtlichen goldenen Boden vergeblich suchte. Bald nach der Lehre heuerte ich bei einem Industrieanlagenbauer an. Ich schraubte an Fabriken in Deutschland, Österreich, Holland, Russland, Kuwait und Ägypten. Für meine Eltern war es das schon fast, das bessere Leben: "Du siehst viel von der Welt und verdienst gut dabei." Noch wertvoller als das gute Geld waren allerdings die Erfahrungen da draußen in der Welt. Leider blieb das Privatleben dabei fast völlig auf der Strecke. Wenn ich mal Zeit hatte, war ich zu müde zum Lesen. Diese bücherlosen Jahre haben mir übel zugesetzt.

Aus beruflichen Gründen kam ich auch ins Weserbergland und bin Anfang der 1980er Jahre aus privatem Anlass dort sesshaft geworden. Der private Anlass war 23 Jahre jung und blond. Und plötzlich hatte ich wieder ein Privatleben! Geregelte Arbeitszeiten und freie Wochenenden! Freie Zeit! Was für ein Luxus!

Was für ein Pech, wenn man im Dauerstress verlernt hat, mit diesem Luxus umzugehen. Ich hatte in meiner Nomadenzeit eine veritable Depression ausgebildet. Der Wald in meiner neuen Heimat konnte mein Gemüt etwas kühlen. Die Musik hat mein Leiden etwas gelindert. Aber Bücher haben mich gerettet!

Ich konnte noch den Osterspaziergang auswendig hersagen. Also her mit dem alten Goethe! Von Schiller bis Grass, von Büchner bis Lenz, Maupassant, Fontane, Dostojewski – alles was sich auf Flohmärkten fand, habe ich mir einverleibt. Bücher wurden mir zur Landkarte im Labyrinth der menschlichen Abgründe: ich musste nur fleißig lesen, dann fand ich da wieder raus.  

Doch so eine Depression gibt sich nicht so leicht geschlagen, sie säte Zweifel: bist du sicher, Arbeiterkind, dass du das alles auch richtig verstehst? Nein, war ich überhaupt nicht. Also fing ich an, aufzuschreiben, was an dem Buch mir gefallen hat, und was nicht. Ich schrieb auf, worum es in dem Buch ging. Ich schrieb, ohne es zu wissen, Rezensionen.  

Vom „richtigen“ Schreiben allerdings war ich immer noch ein gutes Stück entfernt.  

Zumindest aber habe ich gemerkt: du hast deutlich mehr vom Lesen, wenn du drüber schreibst. Du hast auch mehr vom Reisen, wenn du drüber schreibst. Das Schreiben zwingt dich, genauer hinzusehen, gründlicher nachzudenken.  

Schreiben als Werkzeug, soweit war ich immerhin schon gekommen.  

Bis zum Schreiben als Spielzeug waren es dann nur noch ein paar Schritte. Den ersten Schritt davon ging ich in Irland. In diesem Land sind alle Erzähler, nicht bloß die Schriftsteller. Auf dieser mitteilsamen Insel verstieg ich mich, Land und Leute in langen Briefen ausführlich zu schildern. Und plötzlich spazierte durch meine Schilderungen ein Mann in einem grauen Trenchcoat. Damals trug man sowas noch. Was machte dieser Hamburger in der melancholischen Einsamkeit Irlands? Er suchte Abstand, Zeit und Raum zum Nachdenken. Meine erste Erzählung war geboren.

Der nächste Schritt waren Gedichte. Limericks, Irland wirkte nach. Bei aller Freude über das neue Spielzeug Sprache merkte ich irgendwann: alleine komme ich nur sehr langsam voran. Also schrieb ich mich ein zum Fernstudium „Kreatives Schreiben“. Dabei lernte ich noch einmal die Grundregeln unserer Sprache; ich erfuhr einiges über Journalismus und ganz viel über Belletristik. Nun gab’s kein Halten mehr, der erste Roman wurde entworfen. Dazu holte ich mir meinen melancholischen Hamburger geheilt aus Irland zurück und schickte ihn in die DDR. Schließlich wollte ich, wie jeder Anfänger, das Schicksal der ganzen Welt in meinem Buch verhandeln. Und die ganze Welt war damals eben aufgeteilt in Ost und West. Als dann die DDR samt Ostblock implodierte, fiel auch mein 500 Seiten starker Entwurf in sich zusammen. Vielleicht war es ein Omen, dachte ich, vielleicht war mein Versuch zu schreiben, anmaßend. Ich stopfte mein Manuskript ins Altpapier, wehmütig, als seien es Briefe einer enttäuschten Liebe. Tatsächlich fühlte ich mich wie ein zurückgewiesener Liebhaber. Zu Recht, sagte mein Zweifel – als Bettler begehrt man keine Prinzessin.

Jahre später lockte die Prinzessin erneut (oder immer noch?). Was soll’s, dachte ich, wenn ein Frosch eine Prinzessin küssen kann, schafft es ein Bettler vielleicht auch.

Es war schlicht und ergreifend Hemingway, der meine Lust am Schreiben wieder weckte. Seine Prosa war so schlicht, und dabei so ergreifend – das musste doch auch mir möglich sein!

Ich setzte, wie der Meister, einen Mann an einen Bach in den Bergen. Ich kannte die Pyrenäen nicht, deshalb nahm ich die Alpen. Das hatte schon Atmosphäre, aber es lebte noch nicht. Also setzte ich dem Mann eine Frau zur Seite und schon lebte es. Ich las die Szene meiner Frau vor.

"Die reden wie Amerikaner", sagte sie.

(Uff – kopieren wollte ich den Meister nicht.)

"Nun, es sind Amerikaner."

"Und was machen die in den Alpen?"

"Urlaub."

"Urlaub, wie originell!"

Sie hatte recht, das war noch sehr dünn.

"Gut, dann sind sie eben auf der Suche nach ihren Vorfahren…" 

So entstand meine erster längerer Text, als Novelle angelegt, die nun ihre Heimat zwischen zwei Buchdeckeln suchte. Ich habe die Ablehnungen der Verlage nicht gezählt. Passt nicht in unser Programm; unser Programm für die nächsten Jahre steht bereits – die höflichen Demütigungen schlossen meist mit: "Viel Glück bei der weiteren Suche nach einem passenden Verlag!"

2006 erschien die Novelle bei einem Verlag, der viel versprach und wenig hielt. Immerhin verkaufte ich 350 Exemplare. Ich verkaufte! Der Handel, mein alter Feind, hatte sich durch die Hintertür wieder in mein Leben geschlichen. Freunde sind wir noch immer nicht, haben uns aber leidlich arrangiert.

(Die Novelle ist heute unter dem Titel „Texas – Austria“ wieder auf dem Markt)  

Im neuen Jahrtausend hat der Buchmarkt sich radikal gewandelt. Durch digitale Technik sind die Möglichkeiten der Eigenpublikation (Self-Publishing!) enorm gestiegen. Das musste ich ausprobieren. Dafür wollte ich aber nicht meine „guten“ Texte riskieren, dafür wollte ich etwas Neues schreiben. Das Buch „Feuchtgebiete“ war damals gerade zum Bestseller geworden. Ich las einige Seiten davon und dachte: so ein Schmarrn verkauft sich so gut – das kann ich auch, und zwar noch besser. Auf einem Balkon mit Meerblick und reichlich Rotwein auf La Gomera schrieb ich in zwei Wochen den „Nacktscanner“. Weil es ein Skandal werden sollte, griff ich zu einer derben, drastischen Sprache. Der erwünschte Effekt blieb aus. Selbst im Internet musst du an den richtigen Stellen zündeln, um einen Skandal zu entfachen. Das Buch hatte ohnehin einen Makel: es fing locker und witzig an und kippte in der Mitte ins Nachdenkliche. Ich nahm das Buch wieder aus dem Handel und überarbeitete es gründlich. Wer das Buch heute in die Hand nimmt, liest eine Satire, begleitet von einer Menge Erotik. (Bei allen, die meine erste Version gelesen haben, entschuldige ich mich.)  

Nun mit dem Self-Publishing schon vertraut, stellte ich eine Sammlung von Erzählungen und Kurzgeschichten zusammen, die ich im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte verfasst hatte und publizierte sie unter dem Titel „Fliehkräfte“. Hierin sind einige meiner besten Texte zu finden.

Unser Weserbergland kämpft ums wirtschaftliche Überleben, kulturell dagegen brauchen wir den Vergleich zu Ballungszentren kaum zu scheuen. Es gibt hier viele exzellente Musiker, eine lebendige Szene der bildenden Kunst und einige Autoren, die sich mit unserer Heimat und ihrer Vergangenheit auseinandersetzen. Was ich aber immer vermisste, waren Romane, die unsere ländliche Gegenwart ausleuchten. Bis auf einige Krimis gab es da nichts. Diese Lücke füllte ich mit meinem ersten Roman „Maiglöckchen-Blues“. Am Beispiel unserer Kreisstadt Holzminden zeige ich die globalen Veränderungen der vergangenen drei Jahrzehnten.

Auf vielfachem Leserwunsch schrieb ich eine Fortsetzung des "Blues". "Die heimliche Hauptstadt des guten Geschmacks" ist seit März 2020 auf dem Markt. Und da ist schon die Idee für den nächsten Roman. Der dritte Teil der Holzminden-Trilogie wird aber keine Fortsetzung mehr sein, er wird sich mit dem schwierigen Thema Heimat aus verschiedenen Perspektiven beschäftigen und die jüngere  deutsche Geschichte etwas ausleuchten.

Ich hoffe, Ihnen dieses Buch im Jahre 2022 vorstellen zu dürfen.

Darauf freut sich schon jetzt, Ihr Ernst von Wegen